Seit einiger Zeit tauchen immer wieder
neue Gesichter vor mir auf, Läufer, die ich überhole, während die anderen,
mit denen ich längere Zeit unterwegs war, nicht mehr zu sehen sind. Und sie
sind bestimmt nicht alle vor mir. Das kann nur eines bedeuten: ich schiebe
mich innerhalb der Konkurrenz langsam nach vorne. Das heißt nicht unbedingt,
dass ich schneller geworden bin, sicher nicht, aber die anderen werden
offenbar langsamer und ich zumindest nicht so viel. Dieses Wissen gibt mir
wieder für ein Stück Auftrieb.
Trotzdem wird es so ab Kilometer 57, 58
allmählich härter, die Beine beginnen zu schmerzen, das Laufen wird
schwerer. Irgendwann musste das ja kommen. Es ist eh erstaunlich, dass es so
lange gedauert hat. Inzwischen ist es auch wieder bergiger geworden als vor
dem Grenzadler.
Mancher wird sich vielleicht fragen,
wie das so ist, wenn man so lange läuft, man kann es sich ja gar nicht so
recht vorstellen. Nun, man gewöhnt sich daran, dass das Laufen zum
Lebensinhalt geworden ist. Man läuft und läuft und läuft ... Man geht auch
mit einer entsprechenden Einstellung in so ein Rennen. Das kann man auch im
Training feststellen. Wenn man einen 1-Stundenlauf vorhat, dann reicht es
einem auch nach 1 Stunde. Wenn man 3 Stunden laufen will, ist man anders
eingestellt und hat nach 1 Stunde noch kein Problem, sondern weiß, dass man
noch ziemlich am Anfang ist. Offenbar funktioniert das auch bei so langen
Läufen ganz gut.
Allerdings zieht es sich inzwischen
doch ganz schön. Ich warte auf die 60 km-Marke. Als ich sie erreiche und die
Zeit prüfe, zeigt sich, dass ich immer noch gut im 9-Stundenraster liege.
Aber nun kommt der Anstieg zum Großen Beerberg, dem höchsten Berg des
Thüringer Waldes. Danach wird sich zeigen, ob meine Zielzeit noch erreichbar
ist.
Zunächst geht es noch mal steil bergab
und dann beginnt der Aufstieg, vor dem ich in dieser fortgeschrittenen Phase
des Wettbewerbs ziemlichen Respekt habe. Umso überraschter bin ich, als ich
an einem Schild vorbei komme, das anzeigt, dass der Große Beerberg erreicht
ist. So schlimm war es gar nicht. Und so markant der Gipfel des Großen
Inselsbergs war, so unscheinbar ist der des Beerbergs, ein eher flacher
Buckel ohne Gebäude. Ohne das Schild hätte ich wahrscheinlich gar nicht
mitbekommen, dass der Höhepunkt schon erreicht ist.
Ab hier geht es fast nur noch bergab,
steht in der Streckenbeschreibung. Aber eben nur fast, denn es gibt auch
noch genügend Flachstücke und sogar Anstiege, so wie jetzt gerade, wo der
Beerberg noch gar nicht weit zurück liegt. Allerdings ist er relativ kurz,
geht aber trotzdem ganz schön in die Beine. Genauer müsste man wohl sagen:
es geht nicht mehr so viel bergauf.
Dann kommt wieder ein Bergab-Stück,
allerdings ziemlich steil, so dass ich bremsen muss. Das kostet nicht nur
Kraft, sondern auch Zeit. Die mühsam gewonnenen Höhenmeter können nicht zum
Zeitgewinn genutzt werden, sondern werden vergeudet.
Ich erreiche die Verpflegungsstelle
beim altehrwürdigen Gasthof Schmücke, der mitten in der Wildnis steht. Hier
genehmige ich mir einen Becher Cola. Das habe ich bei Stadtmarathons noch
nicht gesehen, nur bei den Bergläufen, die ich bisher gemacht habe. Aber
auch beim Rennsteiglauf gibt es Cola nicht an jeder Station. Es belebt etwas
und Koffein soll außerdem die Fettverbrennung fördern. Diese Energiequelle
ist jetzt besonders wichtig.
Laut Streckenplan liegt der Gasthof
Schmücke bei Kilometer 64, d. h. es ist noch 1 km bis zur 65 km-Markierung,
wo ich wieder die zeitliche Lage prüfen kann. Aber es dauert bis sie endlich
auftaucht. Es zieht sich inzwischen doch ganz schön, obwohl es leicht bergab
geht. Offenbar ist es hier ähnlich wie bei den Stadtmarathons, wo die
Abstände zwischen den Kilometermarkierungen zum Schluss zu auch immer größer
werden. Die Leute vermessen sich anscheinend am Anfang, kommen dann mit der
Distanz nicht hin und vergrößern, wenn sie es merken, einfach die Abstände.
Es kommt wieder die nun schon
gewohnte Rechnerei: wie weit ist es noch bis ins Ziel, wie viel Zeit bleibt
mir, um die 9 Stunden zu schaffen, welchen Schnitt muss ich laufen oder
welchen Schnitt bin ich bisher gelaufen. Warum hat eigentlich noch niemand
einen Laufcomputer entwickelt, der einem all das berechnet? Könnte man
sicher auch in die Pulsmessuhr integrieren, die sowieso schon alle möglichen
Funktionen hat. Andererseits tut ein bisschen geistige Betätigung
zwischendurch auch ganz gut.
Das Ergebnis meiner Berechnungen
ist, dass ich eigentlich unter 9 Stunden laufen muss, soviel Luft ist
da noch drin. Innerliche Jubelschreie brechen in mir aus. Die Stimmung
steigt fast ins Euphorische. Das gibt wieder neuen Schwung, zumindest für
die nächsten Minuten. Als neues Ziel setze ich mir jetzt 8 Stunden 50
Minuten. Man sieht, ich werde langsam übermütig. Ein Einbruch ist natürlich
immer noch möglich, aber so richtig vorstellen kann ich mir das nicht mehr.
Dafür geht es mir einfach zu gut, trotz der Quälerei, die das Laufen
inzwischen doch geworden ist.
60, 65, was sind das für Zahlen, was
machst du hier eigentlich, frage ich mich. Das sind Kilometer, Kilometer,
die ich zurückgelegt habe. Einfach so, als wäre es nichts Besonderes. Es ist
verrückt.
Die Strecke ist jetzt überwiegend
flaches Gelände. Trotzdem kommt es vor, dass ich auch hier eine kurze
Gehpause einlege und nicht nur an Steigungen, die nun anscheinend endgültig
vorbei sind. Die Dauer des Wettbewerbs macht sich eben allmählich doch
bemerkbar.