Über den Inselsberg

 

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Ich laufe am 20km-Schild vorbei und die Zwischenzeit ist wieder recht ordentlich, das Tempo ziemlich gleichmäßig. Wenig später geht es mal wieder etwas bergab und ich erreiche die Halbmarathondistanz bei km 21,1. Sie ist allerdings nicht markiert, ich kann sie nur ungefähr erahnen. Beim Marathon ist dies immer ein wichtiger Punkt. Man hat die Hälfte geschafft, es gibt eine offizielle Zeitmessung und anhand dieser und dem allgemeinen Befinden kann man ganz gut abschätzen bei welcher Endzeit man in etwa landen wird.

Hier ist es anders. Ich muss fast dreieinhalb mal so viel laufen und habe noch über 50 km vor mir. Eigentlich bin ich noch ganz am Anfang. Schon ein bisschen erschreckend angesichts der Tatsache, dass ich durchaus spüre, dass ich schon ein paar Kilometer zurückgelegt habe und gut zweieinhalb Stunden unterwegs bin.

Apropos Zeit: wenn ich im Vorfeld erzählt habe, was ich vorhabe, bin ich oft gefragt worden, in welcher Zeit ich denn gedenke das zu absolvieren. So 10 Stunden, habe ich dann immer gesagt, worauf manchem die Kinnlade heruntergefallen ist. 10 Stunden ununterbrochen laufen, unvorstellbar. Ja, schon, auch für mich nur schwer vorstellbar. Schließlich fehlt mir jegliche Erfahrung in diesen Dimensionen. Aber so ist es ja immer, wenn man Neuland betritt. Dann weiß man nie, was einen genau erwartet. Und das macht ja auch gerade den Reiz aus. Zunächst besteht aber das Problem darin, überhaupt das Ziel zu erreichen, was alles andere als sicher ist. Als ich begonnen habe, mich mit dem Rennsteiglauf zu befassen, habe ich die Chancen hierfür auf 1:1 geschätzt. Inzwischen bin ich etwas optimistischer.

Wie komme ich dann auf die 10 Stunden, wenn ich keine Ahnung habe, wie so etwas überhaupt zu bewältigen ist? Nun, ich habe mich natürlich auch selbst gefragt wie lange ich für so etwas wohl brauchen werde und habe versucht, aus meinen bisherigen Erfahrungen und Zeiten eine grobe Hochrechnung zu machen. Am besten geeignet dafür ist der Alpinmarathon von Liechtenstein, den ich letztes Jahr gelaufen bin. 5 Stunden 44 Minuten habe ich dort gebraucht bei 1800 Höhenmetern bergauf. Das entspricht einer Durchschnittsgeschwindigkeit von gut 7,3 km/h. Nicht gerade schnell, aber bei solchen Steigungen im Gebirge geht es eben entsprechend langsamer.

Die Höhendifferenz beim Rennsteig ist mit 1500 m etwas weniger und verteilt sich auf eine größere Distanz, so dass die durchschnittliche Steigung deutlich geringer ist. Andererseits ist die Strecke mehr als 30 km länger. Wenn man nun annimmt, dass sich diese beiden Effekte in etwa ausgleichen und ich eine ähnliche Durchschnittsgeschwindigkeit laufen werde, so komme ich auf 10 Stunden Laufzeit.

Andere Rechnung: meine Marathonbestzeit von 4:12 Stunden entspricht einem Schnitt von genau 10 km/h. Auf den Rennsteig umgerechnet sind das gut 7 ¼ Stunden. Wenn man annimmt, dass die längere Laufzeit in Liechtenstein aus den 1800 Höhenmetern resultiert, so kommt man auf 5 Minuten pro 100 m (übrigens sehr wenig, wie ich meine, wenn man bedenkt, dass man für einen guten Bergwanderer 1 Stunde für 300 Höhenmeter rechnet). Das sind auf den Rennsteig umgerechnet noch mal 1 ¼ Stunden, zusammen also gut 8 ½ Stunden. Wäre nicht schlecht. Allerdings kann ich hier nicht annähernd das Tempo eines flachen Stadtmarathons einschlagen. Allein schon deswegen, weil ich hier nicht auf glattem Asphalt, sondern auf unebenen, sandigen, steinigen, von Wurzeln durchsetzten Wegen laufe. Der Rennsteiglauf ist nun mal ein Crosslauf, angeblich der größte Europas. Außerdem muss ich schon von Anfang an langsamer angehen und werde in der späteren Phase des Rennens mit Sicherheit spürbar langsamer. Die 5 Minuten auf 100 Höhenmeter werde ich bei der Länge der Strecke auch nicht schaffen. Wenn man das berücksichtigt, komme ich wieder auf meine 10 Stunden. Ich kann es drehen und wenden wie ich will.

Als alter Optimist habe ich dann während meiner langen Trainingsläufe doch immer wieder Gedankenspiele angestellt, was und wie ich laufen müsste, um schneller zu sein, um vielleicht sogar in die Nähe der 9 Stunden zu kommen. Rein von dem her was ich laufen kann, müsste es doch gehen. Irgendwann habe ich mir aber immer wieder gesagt: du weißt doch nicht was mit dir passiert, wenn du 60 km und mehr unterwegs bist. Du wirst auf jeden Fall langsamer, kannst vielleicht gar nicht mehr richtig laufen, musst überwiegend gehen. Vergiss es, die 10 Stunden sind realistisch, habe ich mir dann gesagt und meine Träumereien wieder beendet. Außerdem können es auch noch viel mehr als 10 Stunden werden und überhaupt geht es erst mal darum ins Ziel zu kommen.

Nichtsdestotrotz hoffe ich, ein bisschen unter 10 Stunden bleiben zu können, und bis jetzt hat die Hoffnung auch noch keinen Dämpfer erhalten. Nach dem leichten Bergablauf beginnt der    3 km lange und immer steiler werdende Anstieg zum Großen Inselsberg, dem ersten Höhepunkt der Tour mit 916 m Höhe. Ich weiß das, weil ich gerade mal wieder auf den Streckenplan schaue, den ich mir mitgenommen habe. Und, wo sind wir? fragt  eine Läuferin neben mir etwas spöttisch. Irgendwo hier vor dem Inselsberg, deute ich auf den Plan. Ich sehe ja ein, dass es vielleicht doof aussehen mag, wenn man mit dem Streckenplan in der Hand durch die Gegend rennt. Schließlich kann man sich nicht verlaufen.

Da soll man sich ohne Streckenplan zurecht finden?

Ich habe ihn trotzdem mitgenommen, weil ich mich bei dem langen Lauf gern etwas orientieren möchte und wissen möchte, ob ein Anstieg vor mir liegt oder flacheres Gelände oder wie weit es bis zur nächsten Verpflegungsstelle ist. Das ist hier besonders wichtig, da die Abstände stark schwanken. Bei einem normalen Marathon kommt in der Regel exakt alle 5 km eine Getränke- bzw. Verpflegungsstelle ab Kilometer 20 und in der Mitte dazwischen oft noch eine Getränkestation. Hier variieren die Abstände zwischen fast 7 und knapp 2 Kilometern. 7 km, das kann bei bergigem Gelände fast eine Stunde Laufzeit sein. Darauf muss man sich einstellen und vorher entsprechend mehr trinken oder sogar etwas für unterwegs mitnehmen. Die unterschiedlichen Abstände rühren vermutlich daher, dass die Stationen ja per Auto erreichbar sein müssen und das ist im Wald natürlich nicht überall gegeben.

 Ab und zu, leider viel zu selten, hat man einen Ausblick auf die Höhen und die Täler des Thüringer Waldes. Ganz schön große Berge sind das hier, was ganz anderes als in der heimischen Fränkischen Schweiz. Und alles ist dicht bewaldet. Anfangs war es noch reiner Laubwald, inzwischen ist es gemischt und später wird es praktisch ein reiner Nadelwald.

Eine zierliche Läuferin taucht vor mir auf in einem T-Shirt vom Swiss Alpine in Davos, einem langen, schwierigen Hochgebirgslauf in der Schweiz, von dem ich schon gelesen habe. Wie lang denn der sei, fragt sie ein anderer Läufer. 78 km, auch nicht viel länger als das hier, antwortet sie bescheiden. Allerdings ist der Höhenunterschied mit über 2300 m erheblich größer und es geht bis auf eine Höhe von 2600 m und über Schneefelder. Allein die dünne Luft dürfte einiges mehr an Leistung erfordern. So dürfte der Swiss Alpine schon noch ein ganz schön größerer Brocken sein als der Rennsteig-Supermarathon. Jedenfalls habe ich gehörigen Respekt vor dem Mädel. Trotzdem fällt sie allmählich hinter mich zurück.

Ich befinde mich noch immer in dem langen Anstieg zum Inselsberg. Zum Schluss wird es richtig knackig steil. Dann ist der Gipfel erreicht, auf dem neben einem Gasthof und einer Jugendherberge ein großer Fernmeldeturm steht, um den Wolkenfetzen ziehen. Zu DDR-Zeiten wurde von hier sicher weit in den Westen hinein gehorcht. 25,5 km sind nun geschafft. Ein frischer Wind weht hier oben. Auf der anderen Seite des Gipfels bietet sich ein herrlicher Fernblick nach Osten und Süden. Man merkt wie hoch oben wir sind, denn alles liegt unter uns.

Lange kann ich die Aussicht nicht genießen, denn

Auf dem Großen Inselsberg

erstens ist sie bald wieder vom Wald versperrt
und außerdem muss ich mich nun auf den Abstieg konzentrieren. Über 200 Höhenmeter geht es laut Streckenbeschreibung sehr steil bergab. Es beginnt mit einer Reihe breiter Treppenstufen, nicht gerade schön zu laufen. Dann wieder normaler Weg, der mir gar nicht so schlimm vorkommt. Aber anschließend wird’s dann wirklich richtig steil. Der Weg ist zwar asphaltiert, aber mit vielen alten Fichtennadeln bedeckt und nass vom morgendlichen Regen und damit schmierig und rutschig. Ich muss höllisch aufpassen und gut bremsen, um nicht auszurutschen. Ein Sturz auf dem abschüssigen Asphalt wäre sehr unangenehm. Mit laufen lassen und Zeit gut machen geht hier gar nichts, schade.

Ich komme heil am Fuß des Berges an, wo mich eine Verpflegungsstelle erwartet. Ich greife diesmal zu einer Banane als Abwechslung zum Kohlehydratgel. Bananen halte ich für die am besten geeignete Nahrung bei Langstreckenläufen, abgesehen vom Gel. Meist gibt es bei den Marathons noch Äpfel und Energieriegel. Äpfel sind meiner Meinung nach nicht energiehaltig genug und mit ihrer Säure vielleicht dem Magen auch nicht so zuträglich. Energieriegel halte ich für etwas schwer verdaulich und puschen mit ihrem Zuckergehalt den Blutzuckerspiegel zu schnell hoch. Aber das sind meine persönlichen Theorien, andere mögen das anders sehen.

Man muss für sich selbst herausfinden was für einen die beste Ernährung während eines Laufs ist, bei mir eben Gel und Bananen. Wichtig sind Kohlenhydrate und dass der Magen und die Verdauung nicht zu sehr belastet werden. Beim Rennsteiglauf wird alles Mögliche an Verpflegung angeboten, bis hin zu Schmalz- und Wurstbroten, was ich nun auch nicht gerade für das Richtige halte.

Dieses Bild ist wirklich vom Rennsteiglauf

Nach einer Weile bekomme ich etwas Magendrücken. Es ist, als ob mir die Banane schwer im Magen liegt. Kann das sein? Schließlich habe ich während der Wettkämpfe immer Bananen gegessen und esse auch während meiner langen Trainingsläufe welche. Ich bin also daran gewöhnt und hatte noch nie Schwierigkeiten. Trotzdem beschließe ich, um jegliches Risiko auszuschließen, keine Bananen mehr zu essen, sondern mich ausschließlich auf mein Gel zu verlassen. Ich habe genügend dabei und erhalte von meiner Frau beim Treffpunkt am Grenzadler noch mal zwei Tuben, entsprechend vier Rationen. Das sollte reichen bis ins Ziel.

Außerdem spüre ich nun schon zum wiederholten Male ein Ziehen in den Waden. Das fühlt sich an, als ob es sich bis zum Wadenkrampf auswachsen könnte. Das verstehe ich auch nicht, denn mit den Waden hatte ich noch nie Probleme, höchstens mit den Oberschenkeln. Die Oberschenkelrückseiten sind es, die bei mir in den späteren Phasen eines Marathons anfangen zu schmerzen.

Und genau das passiert jetzt, wo es auf die 30 km zu geht. Das ist auch etwa der Zeitpunkt wo es beim Marathon anfängt. So weit wäre das ja noch normal, nur dass ich hier langsamer laufe, mich besser und intensiver vorbereitet habe und 30 km weiter laufen will. Wenn das jetzt abläuft wie beim Marathon kann es ja heiter werden. Ich hatte  angenommen, dass die Probleme erst später beginnen.

Irgendwie ist das alles ziemlich merkwürdig im Moment. Aber mein Allgemeinbefinden ist trotz allem immer noch recht gut. Also sage ich mir: entspannt und locker weiterlaufen, und hoffe, dass sich das eine oder andere mit der Zeit einfach wieder bessert. Und so kommt es zum Glück auch.

 

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