Die Marathondistanz müsste ich
inzwischen überschritten haben. Nun bin ich also in meinem „Neuland“, bin so
weit gelaufen wie nie zuvor. Gut fünf Stunden bin ich unterwegs. Anrufen, so
wie ich es vorhatte, kann ich aber nicht, denn wenn ich jetzt das Handy aus
seiner wasserdichten Verpackung hole wird es nass und ist wahrscheinlich im
Eimer, denn ein Outdoor-Handy habe ich nicht.
Es folgt ein längerer Anstieg und
gleich anschließend eine
Bergabstrecke, wobei ich wieder ein paar Läufer überhole. Es ist mir
die ganze Zeit schon aufgefallen, dass ich bergab schneller als die anderen
bin, während in der Ebene oder bergauf der eine oder andere an mir vorbei
zieht. Und das bleibt bis zum Ende des Wettkampfs so, ich werde abwärts kein
einziges mal überholt, was bedeutet, dass ich in meiner Leistungsklasse der
schnellste Bergabläufer bin.
Warum das so ist, ist mir nicht ganz
klar. Die anderen laufen relativ vorsichtig die Abhänge hinunter, während
ich versuche es so weit möglich laufen zu lassen, um ohne größere
Anstrengung etwas Zeit gut zu machen. Trainieren sie keine Bergläufe? Mein
bevorzugter Trainingsberg ist der Hetzleser Berg, den ich ja fast vor der
Haustüre habe, auf den es ein paar verschiedene
Wege hinauf gibt. Hier kann ich in der Spitze
immerhin 200 Höhenmeter am Stück laufen. Und wenn man oben ist, muss man
auch wieder hinunter. So wird das Bergablaufen
automatisch mittrainiert. Ich versuche dabei mit langen Schritten möglichst
flach über den Boden zu gleiten und keine großen Sprünge zu machen, um den
Aufprall abzumildern. Ist das mein Geheimnis? Wie auch immer, es ist
jedenfalls schön, dass ich auf diese Art und Weise gegenüber der Konkurrenz
immer etwas aufholen kann.
Am Ende des Abstiegs ist wieder eine
Verpflegungsstelle. Ich entscheide mich, hier mal etwas vom berühmten
Rennsteig-Schleim zu probieren. Ja, richtig gelesen, eine große Spezialität
des Rennsteiglaufs soll der „Schleim“ sein, der hier angeboten wird, und den
muss ich schon mal ausprobieren, auch wenn ich mich verpflegungsmäßig
eigentlich auf mein Gel konzentrieren will. Bei
Schleim denke ich in erster Linie an Haferschleim. Aber was hier im
Plastikbecher ist, ist eine lila Pampe. Auf einem Schild darüber steht auch
was von Heidelbeeren. Und das ist es auch: ein süßes, dickflüssiges Getränk
mit Heidelbeeren, das gar nicht schlecht schmeckt. Zum Glück bekommt es mir
auch.
Es gibt auch andere Schleimsorten,
wie ich später noch feststellen kann. Da jede Verpflegungsstelle von einem
anderen Verein betrieben wird, gibt es überall andere Spezialitäten, sowohl
was die Verpflegung im Allgemeinen als auch den Schleim im Besonderen
angeht.
Die 45 km habe ich inzwischen
überschritten und der Regen wird allmählich weniger, hört schließlich ganz
auf. Ca. eine ¾ Stunde wird es wohl geregnet haben und, um es
vorwegzunehmen, dabei bleibt es auch.
Jetzt kann ich also meinen Anruf
tätigen. Ich hole das Handy heraus und lese „Kartenfehler“ auf dem Display.
So ein Mist, hat es doch was von der Nässe abbekommen? Wenn ich nicht
telefonieren kann, macht sich Tina vielleicht Gedanken und denkt ich bin
irgendwo aus den Latschen gekippt. Aber Aus- und Einschalten behebt
glücklicherweise das Problem. Sie ist überraschenderweise schon beim
Grenzadler. Von Neuland erzähle ich nun nichts mehr, nur, dass ich in einer
knappen Stunde da sein werde.
Mit leichtem Auf und Ab und auch
Flachstrecken geht es weiter und im Trockenen läuft es sich auch gleich
wieder angenehmer. Vor mir taucht eine einsame Wanderin auf, die mit flottem
Schritt unterwegs ist. Ich bin noch nicht ganz neben mir, da dreht sie sich
zur Seite und applaudiert mir ausgiebig. Ich bedanke mich und erhalte ein
nettes Lächeln zurück. Da sind sie wieder, die kleinen Glücksmomente in der
Einsamkeit des Langstreckenläufers. Viel zu selten gibt es sie.
Ich passiere das 50 km-Schild, aber,
um ehrlich zu sein, so viel Erinnerung daran habe ich gar nicht, obwohl es
doch so eine schöne runde Zahl ist. Und so laufe ich einfach weiter. Mancher
wird sich fragen wie das überhaupt geht, wie man sich fühlt, wenn man so
lange läuft. So sechs Stunden bin ich jetzt unterwegs. Nun, man gewöhnt sich
daran, das Laufen ist zum Lebensinhalt geworden. Man läuft und läuft und
läuft ... Es wird anstrengender mit der Zeit, die Beine fangen irgendwann an
weh zu tun, aber ansonsten geht es immer weiter und weiter.
Ich
habe schon einiges zur Vorbereitung erzählt, einen wichtigen Punkt dabei
aber vergessen: den Obermainmarathon am 10. April. Ich habe in die
Vorbereitung für den Rennsteig einen Marathonwettkampf als Zwischentest
eingebaut. Der Obermainmarathon in Bad Staffelstein, der zum ersten mal
ausgetragen wurde, erschien mir gut geeignet, da er mit 700 Höhenmetern und
teilweise Naturwegen dem Rennsteiglauf vom Streckenprofil her ähnlich war.
Es war ein schöner Landschaftslauf, nur kalt war es. Am Morgen empfing mich
Bad Staffelstein mit Schneetreiben. Erst nachdem ich diesen Test gut
bestanden hatte, habe ich mich für den Rennsteig angemeldet.
Ich warte nun darauf, dass ich bald
die Zwischenstation Grenzadler bei Oberhof erreiche. Warum sie so heißt,
weiß ich bis heute nicht. Jedenfalls ist es für mich ein wichtiger Punkt,
denn dort treffe ich Tina, es gibt eine offizielle Zeitnahme und man kann
mit Urkunde aussteigen, wenn es einem zu viel wird. Bis dorthin wollte ich
auf jeden Fall kommen. Wenn ich dann das Rennen beenden würde, hätte ich
immerhin knapp 55 km und über 1000 Höhenmeter geschafft, was ja auch nicht
schlecht ist. Aber noch ist es nicht so weit.
Es zieht sich jetzt ganz schön und
es dauert und dauert. Dann geht es vom Rennsteig weg nach links auf eine
Wiese, auf der es weglos und reichlich uneben leicht bergab geht. Ich laufe
sehr vorsichtig, um mich hier nicht zu verletzen. Unten sehe ich einige
Häuser, Parkplätze und Menschen, die keine Läufer sind. Das muss der
Grenzadler sein.
Gleich am Anfang ist eine
Verpflegungsstelle, an der ich noch mal zum Schleim greife. Diesmal schmeckt
er salzig, besteht offenbar aus Brühe mit irgendwelchem dicken Zeugs drin.
Ist aber gar nicht schlecht mal was Salziges zu sich zu nehmen, denn auch
bei kühlem Wetter schwitzt man doch
etwas.
noch
fast 18 km vor mir habe und, dass mir mit dem fast 1000 m hohen
Großen Beerberg noch der Gipfel der
Tour bevorsteht. Andererseits habe ich in meiner 9-Stunden-Rechnung für die
Restdistanz schon ein geringeres Tempo einkalkuliert. Wir werden sehen.
Jedenfalls gerate ich wegen der guten Zeit in eine leicht euphorische
Stimmung.
Bei meinen 9-Stunden-Träumereien
hatte ich ausgerechnet, wenn ich nach 6 ½ Stunden, also um ½ 1, am
Grenzadler wäre, dann hätte ich eine Chance auf die 9 Stunden. Und ich bin
Punkt ½ 1 am Grenzadler! Jetzt wird auch nichts mehr bei Seite gewischt,
jetzt will ich an die 9 Stunden ran laufen, wohl wissend, dass ich noch fast
18 km vor mir habe und, dass mir mit dem fast 1000 m hohen Großen Beerberg
noch der Gipfel der Tour bevorsteht. Andererseits habe ich in meiner
9-Stunden-Rechnung für die Restdistanz schon ein geringeres Tempo
einkalkuliert. Wir werden sehen. Jedenfalls gerate ich wegen der guten Zeit
in eine leicht euphorische Stimmung.
Komm, lauf ein Stück mit, sage ich
zu Tina, und sie trabt vielleicht 200 m neben mir her. Einige Zuschauer
spenden Beifall und sie schaut etwas irritiert zur Seite. Sie ist das nicht
gewohnt, ich schon. Dann bleibt sie wieder stehen, während ich weiter zum
gegenüberliegenden Waldrand laufe. Zwei mal drehe ich mich noch um und winke
zurück bis mich wieder die Einsamkeit des Waldes aufnimmt.
Ja, zum ersten mal spüre ich
sie so richtig, die Einsamkeit. Hier waren jetzt doch etwas mehr Menschen.
Außerdem sind nun die Wanderer nicht mehr dabei, sie hatten beim Grenzadler
ihr Ziel. Das Läuferfeld hat sich inzwischen auch ganz schön auseinander
gezogen, so dass nur noch einzelne Läufer vor oder hinter einem sind.